Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur sind heute in offenen und diversen Gesellschaften einem Wandel unterworfen: Gemeinschaften müssen immer neu verhandeln, was sie zusammenhält. Hinzu kommt, dass der zeitliche Abstand zu den Ereignissen grösser wird.
Wie erinnern wir uns heute, wie werden zukünftige Generationen dies tun? Wie gehen wir mit widersprüchlichen, schmerzvollen Erinnerungen um? Und wie lassen sich die Andenken der Verstorbenen bewahren? In dieser Ausgabe setzen wir uns bewusst mit der Vergangenheit auseinandersetzen, erkunden neue Wege des Erinnerns und loten digitale Möglichkeiten aus.
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In ihrem Buch Gewalt und Gedächtnis stellt Mirjam Zadoff Fragen an den aktuellen Status der Erinnerungskultur, aber auch an ihre Geschichte. Gegen Widerstände forderten Überlebende des Holocaust, dass ihre Erfahrung Eingang fand in die deutsche und europäische Geschichte. Als transnationales Projekt hat diese Kultur des Erinnerns heute Vorbildwirkung für den immer so schwierigen Umgang mit einer Geschichte der Gewalt.
Menschen sind die einzigen Lebewesen, die ein Bewusstsein und kulturelle Konzepte zu Sterben und Tod entwickelt haben – und damit auch Erinnerungskulturen an Verstorbene. Diese Erinnerungskulturen sind nur symbolisch vermittelt möglich. Die Symbole wiederum ändern sich im Zuge von gesellschaftlichen Trends wie der Individualisierung, Subjektivierung und Digitalisierung, was sich unter anderem am gegenwärtigen Bestattungspluralismus zeigt. War früher der Friedhof weitgehend alternativlos, so gibt es heute ein breites Spektrum an Bestattungen, die verschiedene Werthaltungen zum Ausdruck bringen. An der postmortalen Existenz wird weiter gebastelt – besonders deutlich im digitalen Raum –, was unsere Praktiken mit Sterben und Tod fundamental verändert. War der Tod früher rituell und symbolisch gerahmt, so beobachten wir heute eine «Entfesselung des Friedhofs», der in analogen und digitalen Welten Präsenz gewinnt, aber auch seine symbolischen und rituellen Rahmungen verlässt. Da Rituale – wie es die britische Sozialanthropologin Mary Douglas festhielt – anthropologisch konstant und höchst relevant sind, müssen wir darüber nachdenken, wie wir sie in Zukunft gestalten werden.