Liebe Leser:innen

Denkmäler, Statuen oder Strassennamen sollen in der Zukunft an die Vergangenheit erinnern. Sie ehren und bewahren historisch bedeutsame Ereignisse, Orte oder besondere Personen – und wurden vielerorts insbesondere seit der Black-Lives-Matter-Bewegung und den Frauenstreiks von zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Debatte gestellt. Gefordert wird eine historische Aufarbeitung in Bezug auf Aspekte wie koloniale Verflechtungen, Sklavenhandel, Nationalsozialismus und Antisemitismus. Denkmäler sind Teil von Erinnerungskultur, sie halten fest, auf welchen Teil von Geschichte sich eine Gruppe von Menschen als erinnerungswürdig einigen. Jedoch bilden sie oft unvollständig ihre Geschichte ab und werden in der Regel von jenen errichtet, die die Herrschaftsverhältnisse dominieren. Gesellschaftliche Bewegungen der letzten Jahre haben sichtbar gemacht, dass Erinnerungskultur vielfältiger und inklusiver werden muss. Es geht darum, Geschichten und Stimmen zu berücksichtigen, die lange Zeit ungehört blieben. Frauen, Menschen mit Mehrfachzugehörigkeiten oder People of Colour suchen wir auf Sockeln bislang vergeblich.

Larissa Holaschke

Neben Erinnerungsorten prägen auch soziale Praktiken wie Feiertage und Rituale oder kulturelle Formen wie Medien, Museen und Archiv-Bestände das kollektive Gedächtnis von Gesellschaften. Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur sind heute in offenen und diversen Gesellschaften einem Wandel unterworfen: Gemeinschaften müssen immer neu verhandeln, was sie zusammenhält. Hinzu kommt, dass der zeitliche Abstand zu den Ereignissen grösser wird: Nur noch wenige Zeitzeug:innen können ihre Geschichte erzählen, die Erinnerung verliert an Dringlichkeit. Dafür bieten digitale Medien, künstliche Intelligenz und Virtual Reality neue Wege, Erinnerungen zu bewahren, zugänglich zu machen und sogar lebendig zu halten.

Wie wollen wir in Zukunft erinnern?

Wie erinnern wir uns heute, wie werden zukünftige Generationen dies tun? Wie gehen wir mit widersprüchlichen, schmerzvollen Erinnerungen um? Werden Perspektiven von marginalisierten Gruppen berücksichtigt? Und wie lassen sich die Andenken der Verstorbenen bewahren? In dieser Ausgabe setzen wir uns bewusst mit der Vergangenheit auseinandersetzen, erkunden neue Wege des Erinnerns und loten digitale Möglichkeiten aus.

Die Historikerin Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, beschäftigt sich mit dem bewussten Erinnern von Gewalt, Verfolgung und Genozid. In ihrem Beitrag stellt sie Fragen an den aktuellen Status der Erinnerungskultur und widmet sich der Gewaltgeschichte, die heute viele Gesellschaften in sich tragen. Dabei zeigt sie, wie Erfahrungen des Holocaust als transnationales Projekt Vorbildwirkung für den immer so schwierigen Umgang mit einer Geschichte der Gewalt darstellen können.

Ein auf Nationen basierendes kollektives Gedächtnis haben Globalisierung und Migration aufgelöst. Der Historiker und Kurator Jose Cáceres Mardones untersucht in seinem Beitrag die Pluralisierung der Erinnerungskultur und Geschichtsvorstellungen der andinen Welt, die mögliche Antworten für die Zukunft der Erinnerung bereithält.

Die Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit der Schweiz und wie die Verflechtungen in der kolonialen Welt das Leben der Schweizer:innen bis heute beeinflussen, verändert aktuell den Blick auf die Vergangenheit und erfordert neue Formen der Geschichtserzählung. Mit dem Projekt colonial-local. Auf Freiburgs kolonialen Spuren haben Simone Rees, Linda Ratschiller und Barbara Miller ein Public-History-Format geschaffen, das Möglichkeiten eröffnet, komplexe historische Zusammenhänge einzubinden, und das eine differenzierte Sichtweise erlaubt, damit eine zukunftsträchtige Beschäftigung mit der Vergangenheit angestossen werden kann.

Digitale Technologien verändern ausserdem Erinnerungskulturen an Verstorbene. Der Soziologe Francis Müller veranschaulicht ein gegenwärtig breites Spektrum an Bestattungen und die Herausbildung von postmortalen Existenzen insbesondere im digitalen Raum. Dabei beobachtet er, wie sich der Tod von einem rituellen und symbolischen Rahmen löst und zu versachlichen droht.

Erinnern und Vergessen gehen Hand in Hand. Der Zukunftsforscher und Politologe Daniel S. Martel untersucht in seinem Artikel Archive als paradoxe Speicherorte, die als Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft fungieren. Unlesbare Dateien, veraltete Soft- und Hardware oder Datendiebstahl können zu einem Verlust von Erinnerungen in der Datenspeicherung und -verwaltung führen. Der Autor beleuchtet die Bedeutung der digitalen Demenz und skizziert vier Zukunftsszenarien zwischen Datenzerfall und Langzeitarchivierung.

Im Zukunftsinterview stellt sich swissfuture-Vorstandsmitglied Christopher H. Cordey unseren Fragen, und in der Rubrik Studien zur Zukunft skizziert das Bundesamt für Sozialversicherungen, wie sich Immigration auf die erste Säule auswirkt. Und wenn Sie Zeit für einen Ausflug haben, auf der letzten Seite finden Sie besondere Tipps zu Ausstellungen oder Lesestoff unter dem Sonnenschirm.

Eine inspirierende Lektüre wünscht
Larissa Holaschke