Bundeskanzler Walter Thurnherr spricht im Interview mit swissfuture-Magazin der Zukünfte (02/22) anlässlich des Berichts «Schweiz 2035. Think Tanks beantworten 20 Zukunftsfragen» über die Stärken und Schwächen der Schweiz. Walter Thurnherr ist unter anderem für die Früherkennung und Krisen-Analysen zuhanden der Landesregierung zuständig und zeigt sich besorgt, dass Tech-Konzerne unsere Zukunft mehr prägen als die Politik. Obwohl er anerkennt, dass junge Menschen heute eine schwierigere Ausgangslage antreffen als Generationen zuvor, plädiert er für hoffnungsvolle Zukunftsvorstellungen.

Walter Thurnherr, Bundeskanzler (Bild: zvg)

swissfuture: Sie erinnern in Ihrem Vorwort an die Szene aus «Der Tunnel» von Friedrich Dürrenmatt: Der Student realisiert, dass der Zug unaufhaltsam in den Abgrund fährt, in die Apokalypse. Sie verknüpfen diese Szene mit dem Zeitgeschehen aus der Zeit der Veröffentlichung dieser Erzählung: Die USA testen Anfang der 1950er Jahre die Wasserstoffbombe, Grossbritannien die erste eigene Atombombe, der Bundesrat denkt über die nukleare Bewaffnung der Schweiz nach. Heute herrscht bei vielen ein ebenso apokalyptisches Bild vor: Klimawandel, Ukraine-Krieg, Covid-19, drohende Strom- und Gasknappheit. Was sagen Sie den vielen jungen Menschen, welche duüstere Zukunftsvorstellungen haben? Schaffen wir das?


Ich wollte damit darauf hinweisen, dass es schon früher brenzlige Situationen und Entwicklungen gab. Der Weltuntergang ist zwar schon oft angekündigt worden, jedoch relativ selten eingetroffen. Natürlich wäre es kein guter Ratschlag an die nachkommende Generation, aufgrund der Glückssträhne vergangener Jahrzehnte mit treuherziger Zuversicht abzuwarten, bis jemand (anderer) die Lösungen auf die grossen Herausforderungen unserer Zeit nachliefert. Auf der anderen Seite wäre es eine ebenso kurzsichtige Empfehlung, nun mit radikaler Gewalt eigene Überzeugungen durchzuzwängen, weil sich bisher keine demokratische Mehrheit dafür finden liess.

„Düstere Vorstellungen bringen nichts. Nachdenken, aufstehen, Unterschriften sammeln, eine Initiative einreichen und das Land verändern, das bringt es eher!“

Zweifellos eine schwierige Ausgangslage, viel schwieriger als für die zwei Generationen zuvor, die sich den Luxus noch leisten konnten, die anstehenden Probleme zu verdrängen, als ginge es um Prüfungs- oder Höhenangst. Ab und zu muss ich an Edgar Bonjour denken, der anerkennend über unsere Verfassungsväter schrieb, ihnen sei in 51 Tagen ein Durchbruch gelungen, weil sie «weniger an ihre Vorfahren und mehr an ihre Nachfahren gedacht hatten». Diese Haltung ist im gegenwartsversessenen 20. Jahrhundert etwas verloren gegangen, und manchmal dünkt es einen, im 21. Jahrhundert hätten einige Beobachter unserer Breitengrade die Zukunft bereits aufgegeben. Ich bin nicht dieser Meinung. Die Jungen werden es besser machen, schon weil sie es besser machen müssen. Darüber hinaus sind sie mindestens so vernünftig, wie wir damals waren. Meine Botschaft wäre deshalb: Düstere Vorstellungen bringen nichts. Nachdenken, aufstehen, Unterschriften sammeln, eine Initiative einreichen und das Land verändern, das bringt es eher!

30 Think Tanks haben Ihnen 20 Fragen zur Schweiz 2035 beantwortet, darunter, ob wir noch Strom haben werden, ob wir noch mit Notengeld bezahlen, ob der Mittelstand den ökonomischen Wohlstand verlieren wird und ob die Schweiz den Treibhausgasausstoss gegenüber 1990 um 70 Prozent reduzieren kann. Welche neuen Erkenntnisse haben Sie aus den Antworten gewonnen? Und welche
davon haben Sie dem Bundesrat unterbreitet?


Der Bericht «Schweiz 2035» soll dem Bundesrat als Grundlage für eine politische Grundsatzdiskussion im Hinblick auf die Legislaturplanung 2023–2027 dienen. Er ist eine Ergänzung zu den bestehenden Arbeiten und Überlegungen der Departemente. Dabei wollten wir Fragen stellen, die längerfristig ausgerichtet sind und über die aktuellen Brennpunkte hinausgehen. Implizit zeigt er auch auf, dass man guten Glaubens verschiedener Meinung sein kann. Abhängig davon, in welcher Reihenfolge man die Antworten liest, ist man zuweilen von der einen Position überzeugt, dann wieder von einer anderen. Die Begründungen sollen deshalb Anstösse geben, die eigenen Überzeugungen, oder besser gesagt Vorurteile, zu hinterfragen. Ich habe aus den Antworten mitgenommen, dass die Schweiz nicht so schlecht aufgestellt ist, und wir uns mit unserer Innovationskraft nicht verstecken müssen, aber dass wir in vielen Dingen noch davon ausgehen, die Zukunft sei die stetige Fortsetzung der Gegenwart.

Die Bundeskanzlei hat den gesetzlichen Auftrag, eine langfristige und kontinuierliche
Lage- und Umfeldanalyse zu betreiben. «Schweiz 2035» ist ein Beitrag
dazu. Die EU hat ein Strategic Foresight Team unter der Leitung des EU Kommissionsvizepräsidenten Maroš Šefčovič. Jedes EU-Land hat eine:n zuständige:n Minister:in dafür. In Bern entwerfen auch zahlreiche Bundesämter Zukunftsbilder, Szenarien und Trendanalysen. Wie koordiniert und evaluiert die Bundeskanzlei die strategische Vorausschau für die Schweiz?


Wir koordinieren das nicht im engeren Sinn. Die verschiedenen Strategien sind auch
Ausdruck verschiedener Interessen und Gewichtungen. Die Legislaturplanung vermittelt
jedoch eine Bilanz aller bundesrätlichen Strategien. Sie ist einer der wenigen
Orte in der Bundesverwaltung, an denen man sich auf Stufe Bundesrat und Parlament einen Gesamtüberblick über die Regierungstätigkeit verschafft und in diesem Zusammenhang Grundsatzfragen stellen kann bzw. stellen soll. Im Gegensatz zur EU und einzelner ihrer Mitgliedstaaten ist die Schweiz in Bezug auf eine «Gesamtstrategie», im Sinne eines Koalitionsvertrags oder eines Weissbuchs, eher zurückhaltend. Wir sind zu abhängig von zu vielen äusseren Einflüssen. Deshalb hat man auch noch nie ein Verfahren gegen einen Departementsvorsteher angezettelt, wenn er einmal ein Legislaturziel nicht erreicht hat. In der Regel kann man das erklären.

Politik ist das System, wo Zukunft gestaltet wird. Ist dem so? Falls ja, leisten unsere politischen Institutionen diese Aufgabe ausreichend?


Das ist zum Teil so. In Demokratien mehr als in Diktaturen, wo die Zukunft eher in einem Hinterzimmer oder im Hinterkopf eines Einzelnen gestaltet wird. Darüber hinaus wird die Zukunft wesentlich von technologischen Innovationen beeinflusst, die erst im Nachhinein von der Politik reguliert werden, wenn überhaupt. Meines Erachtens müssen wir dabei etwas aufpassen.

„Darüber hinaus wird die Zukunft wesentlich von technologischen Innovationen beeinflusst, die erst im Nachhinein von der Politik reguliert werden, wenn überhaupt. Meines Erachtens müssen wir dabei etwas aufpassen.“

Denn es nützt wenig, wenn wir mit Volksabstimmungen in allen kleinen Fragen, vom Bau eines Hallenbads bis zur Subventionierung der Kuhhörner, mitbestimmen können, wenn gleichzeitig die grossen Fragen, zum Beispiel im Bereich der Digitalisierung, mit den Codes grosser Softwarekonzerne entschieden werden, und wir diese hinnehmen müssen, als handle es sich um Naturphänomene. Und nein, unsere politischen Institutionen funktionieren sehr gut, was die Innenpolitik betrifft, aber immer mehr Dinge, die uns betreffen, werden anderswo entschieden. Wir sind aussenpolitisch nicht so gut vernetzt, wie viele hierzulande glauben.

John Casti, ein Mathematiker, der sich mit der Vorhersehbarkeit von Ereignissen beschäftigt hat, hat es einmal auf eine einfache Formel gebracht: Wenn wir sehr gute Modelle haben und zusätzlich die richtigen Daten erfassen, können wir Vorhersagen machen. In der Welt der Physik funktioniert dies, beispielsweise mit dem freien Fall: Wir können selbst die Aufprallgeschwindigkeit fast perfekt voraussagen. Glauben Sie, dass mit Unterstützung von Künstlicher Intelligenz und Big Data künftig ökonomische, gesellschaftliche und politische Ereignisse besser antizipiert werden können? Falls ja, wird das die Politik vorausschauender machen?


Ich bin skeptisch. Politik ist, mathematisch betrachtet, eher ein chaotisches dynamisches System: Sie ändern die Ausgangsbedingungen an einem Ort nur um ein winziges Detail, und es kann ganz anders herauskommen. Künstliche Intelligenz ist noch nicht so intelligent, wie man gemeinhin meint, und «Machine Learning» sollte man auch nicht mit Intelligenz verwechseln. Prognosen, sobald sie das Verhältnis von zwei oder mehr Personen betreffen, würde ich auf jeden Fall nie mit einem Computer anstellen. Ich habe einmal theoretische Physik studiert. Und dort lernt man bereits in den unteren Semestern, dass man zwar ein Elektron von A nach B schiessen und dort messen kann, dass man aber keine Ahnung hat, was zwischen A und B genau passiert ist bzw. wo das Elektron überhaupt «durchgeflogen» ist. Das macht einen augenblicklich bescheiden, selbst wenn es um den freien Fall geht.

Walter Thurnherr, Bundeskanzler
Geboren 1963, aufgewachsen in Wohlen (AG), theoretischer Physiker ETHZ. Nach dem Studium schlug Walter Thurnherr die diplomatische Laufbahn ein. 2002 wurde er Generalsekretär des Departements für auswärtige Angelegenheiten. Später wechselte er wiederum als Generalsekretär ins damalige Volkswirtschaftsdepartement und 2011 ins Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation. Ende 2015 und Ende 2019 wählte ihn die Bundesversammlung zum Bundeskanzler.

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